FAQ
Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist im Zuge der Pandemie sowie durch internationale Krisen, ungleiche Lebensverhältnisse und digitale Einflüsse besonders herausgefordert. Der jüngste Anstieg der registrierten Gewalt im Kindes- und Jugendalter ist nur ein weiterer Hinweis hierfür.
Um die Lage besser einschätzen zu können und Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, hat der Landtag die Landesregierung beauftragt eine unabhängige Studie durchführen zu lassen. Da wir bereits vor ca. 10 Jahren erfolgreich eine repräsentative Befragung von Schülerinnen und Schülern in Gelsenkirchen, Herten und Marl durchgeführt haben („Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“, finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft) ist geplant, diese Befragung nun zu wiederholen.
Der Vergleich beider Studien ermöglicht es, Antworten auf die folgenden Fragen zu finden:
- Wie entstehen Freundschaften über Gruppengrenzen hinweg und wann kommt es zu Konflikten?
- Wie entsteht sozialer Zusammenhalt im Schulkontext?
- Wie sind die Erfahrungen und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler hinsichtlich Gewalt und wie hat sich dies in den letzten 10 Jahren verändert?
Des Weiteren hilft die Datenerhebung bei der Entwicklung geeigneter Präventions- und Interventionsmaßnahmen, um Jugendgewalt nachhaltig entgegenzuwirken.
Die Befragung deckt ein breites Spektrum an Themen ab. Im Zentrum stehen Freundschaftsbeziehungen und verschiedene Formen delinquenten (abweichenden) Verhaltens. Darüber hinaus erheben wir aber beispielsweise auch Informationen zu soziodemographischen Merkmalen, verschiedenen Einstellungen und den Freizeitbeschäftigungen der Jugendlichen.
Die Befragung wird von unserem Forschungsteam vorbereitet und persönlich an einem mit den Schulen abgestimmten Termin im Herbst 2024 durchgeführt. An der Befragung sollen idealerweise alle Klassen des siebten und neunten Jahrgangs aller weiterführenden Schulen in Gelsenkirchen, Herten und Marl teilnehmen. Die Befragung einer Klasse dauert zwei Schulstunden und erfolgt mit Hilfe einer Befragungssoftware an von uns mitgebrachten Tablets.
Ziel des Forschungsprojekts „Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“ war ein tieferes Verständnis der Mechanismen, die zu jugendlichem Gewalthandeln führen. Zum einen sollte auf Basis integrativer Handlungstheorien der Frage nachgegangen werden, durch welche Mechanismen gewalttätiges Handeln zustande kommt. Zum anderen sollte die Bedeutung der Peergruppe für Gewaltdelinquenz untersucht werden. Ein Fokus lag dabei jeweils auf gewaltlegitimierenden Normen, die sich sowohl für Jugendgewalt im Allgemeinen als auch für die Erklärung diesbezüglicher ethnischer Unterschiede als bedeutsam herausgestellt haben.
Im Rahmen der Vorgängerstudie „Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“ haben die Schüler:innen zahlreicher Schulen im Ruhrgebiet von 2013 bis 2016 an jährlichen Befragungen teilgenommen. Dies ermöglicht es uns, mit der neuen Befragung aussagekräftige Vergleiche zu ziehen und entsprechende Handlungsbedarfe zu identifizieren. Finanziert wurde die Studie von der deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Die durchgeführten Analysen bestätigten zentrale Hypothesen neuerer integrativer Handlungstheorien und ermöglichten differenziertere Erklärungen von Jugendgewalt und -delinquenz. In Einklang mit der Situational Action Theory von Wikström und dem Modell der Frame-Selektion von Esser und Kroneberg ergaben sich Hinweise darauf, dass es nur unter bestimmten situativen Bedingungen zu einer Abwägung von Anreizen kommt, während ein Großteil insbesondere gesetzeskonformen Handelns unhinterfragt auf Basis verinnerlichter Normen und situativer Hinweisreize erfolgt.
Netzwerkanalysen zeigten, dass in Schulkontexten, in denen Gewalthandlungen eher mit Beliebtheit einhergehen, Jugendliche, die gewaltlegitimierenden Normen zustimmen, eher in Gewalthandlungen übersetzen – nicht jedoch in Kontexten, in denen kein Statuszugewinn zu erwarten ist. Zudem konnte die Bedeutung der ethnischen Herkunft für physische Gewaltbeziehungen, Freundschaften und Antipathie-Beziehungen im Schuljahrgang herausgearbeitet werden. Physische Gewalt tritt relativ selten zwischen Schüler:innen unterschiedlicher ethnischer Herkunft auf, und zwar gerade in Schulen mit ethnisch stärker getrennten Freundschaftsnetzwerken. Dies ließ sich größtenteils dadurch erklären, dass Schüler:innen, die befreundet sind oder gemeinsame Freunde haben, mehr Freizeit miteinander verbringen. Das Ergebnis der Studie belegt somit das sog. Integrationsparadox: Ein Mehr an Auseinandersetzungen ist häufig Folge einer voranschreitenden Integration. Schulen, in denen physische Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen unterschiedlicher ethnischer Herkunft besonders selten sind, sind eher durch ethnisch getrennte Freundesgruppen und Antipathie zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft gekennzeichnet. Dieses Ergebnis wurde auch öffentlich wahrgenommen (siehe u.a. DIE ZEIT Nr. 41/2019).